4. Mai 2021

Ur-Klang

Ich habe klassischen Gesang studiert und da geht es sehr viel um Kunst machen. Ist das das Gegenteil von Natürlichkeit?

Der Kehlkopf ist nicht ursprünglich zur Lautbildung gedacht. Die primäre Funktion des Kehlkopfs ist das Schließen. Dieser Mechanismus ist für das Überleben wichtig – Sprechen und Singen nicht so sehr.

Für das Singen müssen wir die Kehle „öffnen“ bzw. geräumig halten. Nur die Plica vocalis wird geschossen (Stimmfalten) und durch die Ausatemluft in Bewegung versetzt. Dieser am Ende komplexe Mechanismus reicht jedoch noch nicht aus. Zusätzlich ermöglicht der aufrechte Gang, dass wir so viel Resonanzraum über dem Kehlkopf nutzen können (Tiere, die „singen“, wie Vögel oder Wölfe überstrecken den Hals um diesen Platz zu schaffen). Das Resultat sind die vielseitigen Klänge, die die menschliche Stimme produzieren kann – singen. Wir trainieren Muskulatur und Wahrnehmung, bis wir wie Bodybuilder an die Grenzen unseres Körpers gehen – zumindest an dieser kleinen Stelle unseres Körpers. Trotzdem bleibt unser Körper ja natürlich und deshalb klingt jede Stimme anders. Wir nennen das Klangfarbe oder Timbre.

Stimme ist natürlich, aber singen nicht. Wie klingt also Natürlichkeit?

Wenn ich den Ur-Klang des Menschen suche, suche ich nach Resonanzen, Schwingungen und Geräuschen, die noch fernab von Kunstgesang oder Phonetik sind.

In meinem Workshop „Ich-Geräusche“ geht es genau darum. Was kann meine Stimme alles? Wie individuell ist auch das Gefühl für bestimmte Teilbereiche meiner eigenen Stimme.

Sprechstimme ist zu einem großen Anteil kulturell geprägt. Wir erlernen Muttersprache imitierend und so imitieren wir auch die Sprechstimme. Aber auch Rollenbilder, die Sprache selbst und die Medienkultur haben großen Einfluss auf unsere Sprechstimme, eben das gesamte Umfeld.

Ich habe chilenische Wurzeln. Mittel- bzw. südamerikanische SängerInnen erkenne ich meistens einfach an der Stimmtechnik. Das gleiche gilt auch für andere Kulturen.

Südafrikanische Stimm- und Sprechkultur hat viele Parallelen zur „resonanten „Gesangstechnik“ der Oper. Deshalb erobern seit einigen Jahren immer wieder südafrikanische SängerInnen die Bühnen.

Ich bin aber in Franken aufgewachsen und diese Sprechkultur arbeitet konsequent gegen diesen Resonanzraum. Den Kiefer öffnen wir nicht so gerne, der Kehlkopf ist etwas höher und wir stürzen uns in der deutschen Sprache gerade zu auf schließende Konsonanten.

Dies bezieht sich nur auf die „klassische“ Gesangstechnik, wobei ich gerne hinzufügen möchte, dass es hier zahlreiche Schulen, unterschiedliche technische Ansätze und dementsprechend sehr unterschiedliche Ergebnisse gibt. Wie sieht es aber mit Techniken wie Belting, Jodeln, Crooning, Growling, Kehlkopfgesang, Obertongesang, Untertongesang, Twang, Whistle Tones aus. Die Liste ist endlos und ich freue mich sehr darauf, mit den WorkshopteilnehemerInnen die unterschiedlichen Funktionsvarianten des Kehlkopfs zu erforschen.

Alle Klänge, die derart erforschend entstehen, haben etwas mit der Natur der eigenen Stimme und der Körperwahrnehmung zu tun. Und dann stößt man an Grenzen oder entdeckt offene Türen, die einem etwas über die eigene Persönlichkeit und Sozialisation verraten. Ich erinnere mich an meine zweite Gesangsstunde mit meinem „funktionalen“ Gesangslehrer. Hier hat sich eine unbekannte „Tür geöffnet“ und ich habe ein freischwingendes a2 gesungen. Dieser Ton war so sehr ich – klangvoll, spannungsvoll und gelöst, dass ich vor Freude angefangen habe zu Lachen.

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