9. Mai 2021

Ur-Sprache

„Am Anfang war das Wort“. Nicht nur in der Bibel, auch in der Evolutionstheorie gilt Sprache als Initialzündung bzw. Ur-Beginn der menschlichen Entwicklung, als Beginn der Kunst, weil erstmals Kommunikation möglich war und damit auch Interpretation. Sprache bedeutet Entwicklung und hat sich immer weiterentwickelt.
Ist dann die primitive Ursprache unzulänglich gewesen? Oder bedeuten moderne, sprachliche Veränderungen einen Verlust von Sprachkultur? Wäre dann unsere moderne Umgangssprache, in der der Genitiv unattraktiver wird, „Denglisch“ Teil des normalen Sprachgebrauchs ist und unregelmäßige Verben regelmäßig regelmäßig werden, primitiv?

Ich habe mich zum Thema Sprache vor allem mit Wittgenstein beschäftigt und seine Sprachtheorien geradezu verschlungen. Sprache ist vollständig und funktionsfähig, einfach, weil dir erst im Nachhinein auffallen kann, dass sie nicht vollständig ist. Oder anders ausgedrückt, Sprache ist immer, was wir gerade brauchen, ein Abbild der Gesellschaft, ihrer Lebensumstände, ihrer Zeit und gleichzeitig nie vollendet. Wittgenstein vergleicht die Sprache mit einer Stadt, in der alte Häuser stehen, die zum Teil zerfallen oder abgerissen werden, zum Teil von Liebhabern restauriert werden. Die Stadt wächst, es gibt neue Häuser für den jeweiligen neuen Zweck. Einige davon würden wir als schön bezeichnen, andere, wie den Plattenbau vermutlich eher nicht. Aber als Sprecher lebender Sprachen erfinden wir täglich neue Wörter, um Benennungslücken zu schließen. Philipp von Zesen, ein Schriftsteller aus dem 17. Jhdt., hat zum Beispiel eine ansehnliche Liste an Neologismen für die deutsche Sprache geschaffen und wo wäre unsere Sprache heute ohne „Lebensläufe“, „Liebesgedichte“ und „Rechtschreibung“? Neologismen der letzten Jahre sind: „Klimakrise“, „Brexit“ und „mensplaining“ – ein Abbild unserer Gesellschaft. Letztendlich ist eine der Funktionen der Sprache, so Wittgenstein, zu beschreiben, was ist bzw. was wir wahrnehmen können. „Du kannst nichts ausdrücken, was du nicht auch denken kannst.“ Deshalb fehlen uns die Worte für Wunder und Religion und jeder Versuch mit unserem Wortschatz „Gott“ zu erklären führt entweder zur Erkenntnis, dass Gott nicht existiert, oder, dass wir nicht alles wissen. Die Grenzen meiner Sprache sind automatisch die Grenzen meiner Welt oder genauer meines Weltbildes.

Doch die Sprache hat noch mehr Aufgaben. Wir brauchen sie um Gefühle auszudrücken, Regeln festzumachen und moralische Haltungen bekanntzugeben. „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache:“

Sprache hat Bedeutung. Wie groß diese ist, stellt man dann fest, wenn sprachliche Bilder unser Denken manipulieren bzw. einschränken – „Framing“. Die Idee des Begriffs ist es, dass wir mit der Wortwahl einen Rahmen für die Gedanken der ZuhörerInnen bilden, den der/die Angesprochene nicht verlassen kann.

In den nächsten Monaten werde ich euch noch mehr von meiner Framing-Recherche berichten, doch jetzt zurück zur Ursprache.

Wie klingt es, wenn wir zu Ur-Sprache zurück gehen, aus Klängen eine Sprache entwickeln, die noch frei von Politik und Manipulation ist. Worte des Anfangs nur um Anfang darzustellen, das Herz von Sprache.

Sowohl in meinem Workshop, als auch in meinem Projekt spielt diese Idee eine große Rolle. Als Sängerin ist Sprache mein täglich Brot. Gibt es Gesang ohne Sprache? Wie weit können wir reduzieren? Wie viel Sprache können wir Un-gesprochen lassen und trotzdem noch etwas sagen? Wie unvollständig kann noch verständlich sein?
„Let us sing the heart of sound“.

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