Was ist Singen? Auf Wikipedia finde ich Sätze wie:
„Der musikalische Gebrauch der menschlichen Stimme“ oder
„der Begriff Gesang umfasst per Definition zwar sämtliche Formen des musikalischen Stimmengebrauchs, allerdings sind einige Formen vom gewöhnlichen Gesang abzugrenzen. Als Sänger werden daher ausschließlich Personen bezeichnet, die während ihres Gesangs Töne halten und treffen.“
Aber, wie lange muss man als Töne halten, damit es als Singen gilt? Und wenn ich den Ton nicht treffe, singe ich nicht mehr, oder singe ich dann falsch oder singe ich nur einen anderen Ton? Rapper werden hier unter anderem ausgegrenzt und damit das Spektrum des Sprechgesangs. Wikipedia ist zwar schnell und einfach zu finden, doch die Interpretation eines alten, weißen Mannes kann für mich nicht allgemeingültig sein. Die Version des Oxford Languages Wörterbuch klingt so:
„Gesamtheit der klingenden oder rhythmischen Lautäußerungen bestimmter Tiere und des Menschen“. Wieso wehren wir uns gegen diese Definition. Als Sängerin ist meine Stimme mein Arbeitsmittel aber auch mein Kommunikationsmittel.Ich versuche als Künstler doch in gewisser Weise kommunikativ zu sein, mich auszudrücken. Singen ist Ich-bezogen.
Wer anderen etwas Gutes tun möchte, wählt einen sozialen oder pädagogischen Beruf, wer dabei mehr Anerkennung braucht, studiert Medizin oder Jura. Ein Sänger, eine Sängerin singt für sich. Ich lerne jeden Tag etwas Neues über mich. Mein berufliches Leben dreht sich um mich. Ich bin darauf angewiesen, dass sich andere Menschen für mein berufliches Leben interessieren, damit ich Geld verdienen kann. Ich möchte also, dass sich möglichst viele Menschen dafür interessieren, was ich zu sagen und darzustellen habe bzw. was in mir steckt: eben meine Stimme.
Als Opernsängerin trainiere ich meine Stimme, um bis an ihre Grenzen zu gehen – extreme Dynamik, extreme Tonhöhe, extreme Spannung und Muskelkraft – aber sind das wirklich schon die Grenzen? Als ich mein erstes zeitgenössisches Werk aufführen durfte, war ich skeptisch. Es war Brigitta Muntendorfs „Sweetheart, Goodbye“. Ich hatte vorher keine Berührungspunkte mit dieser Musik. Und dann ein Orchesterwerk, bei dem ich vor allem redete, schrie und stöhnte. Doch schon nach der ersten Probe mit Orchester war ich begeistert. Ich hatte neue Grenzen kennengelernt, einige sogar überschritten. Ich hatte neue Klänge gefunden, die meine Stimme erzeugen kann und neue Klangfarben meiner Persönlichkeit entdeckt.
Unsere musikalische Kultur diktiert uns Grenzen, die ich als Stimmkünstlerin nicht anerkennen möchte. Wäre ich in einem anderen Land, einer anderen Kultur oder schon nur in einem Hardcore Metal hörenden Haushalt in Deutschland aufgewachsen, wären meine Grenzen andere. Dann wäre mein Ideal nicht eine engelsgleiche Kopfstimme, sondern rauchige Tiefe, Nebengeräusche oder sogar die Erzeugung und Verstärkung bestimmter Obertönen für den Kehlkopfgesang.
Drei spannende Workshoptage in Bad Münstereifel liegen nun hinter uns und ich hoffe sehr, dass auch die Workshopteilnehmerinnen bisherige Grenzen überschreiten konnten. Wir haben „Ich-Geräusche“ gesucht, die so vielseitig waren, wie die Persönlichkeiten im Raum.
Beginnt man ein Instrument zu spielen, probiert man vielleicht erst mal ein paar Klänge aus, entscheidet man sich dazu, es zu lernen, zu „studieren“, wird einem dann der Aufbau erklärt. Man versteht Begriffe wie „Tasten“, „Pedal“, „Steg“ „Griffbrett“, „Mundstück“ und mehr. Doch wie ist das beim Singen. Bis zum Gesangsstudium beschäftigen sich die Wenigsten mit der Anatomie unseres Instrumentes. Und auch im Studium ist dann die Relevanz nicht für alle ersichtlich. Doch um zu verstehen, wie vielseitig die Klangerzeugung des Instruments Stimme ist und diese Vielseitigkeit nutzen zu können, ist das essentiell.
Stimmtechnik ist auch Körperlichkeit und Körperwahrnehmung. Du kannst mit extremen Spieltechniken arbeiten, wenn du die Grenzen deines Instruments kennst. Das Gleiche gilt für die Stimme.
Anatomie und Physik – Wie funktioniert die Atmung, klassische Tonerzeugung und wie entstehen Klänge, die irgendwie nicht zum „normalen Gesang“ gehören? Vocal Fry, Whistle Tones, Untertöne, Obertöne, Wie werden unterschiedliche Konsonanten gebildet, Vokale, wie verändere ich die Resonanz im Kehlkopf und im Vokaltrakt. Gemeinsam haben wir hier geforscht und nachgespürt. Und dann gibt es diesen interessanten Aspekt des persönlichen Zugangs. Jeder spürt seinen Körper anders und so entstand bei der einen jungen Sängerin ein bezaubernder Whistle Tone, während die andere auf Anhieb einen Unterton erzeugte. Lernen und üben kann allerdings trotz Veranlagung jeder alles. Ich hoffe sehr, dass die Teilnehmerinnen meines Workshops weiter forschen und probieren.